Bukarest: Gedächtnis und Stadterkundung

bukarest: gedächtnis und stadterkundung Mit einem Kulturprojekt über sein kollektives Gedächtnis macht Bukarest seine Kandidatur um den Titel Europäische Kulturhaupstadt offiziell. Die Organisatoren stellen Schriftsteller gegenüber, die widersprüchliche Ideen über Bukarest ausdrücken.

„Memorie” (zu dt. Gedächtnis) ist ein Teilprojekt über das kollektive Gedächtnis Bukarests, das die Kandidatur der rumänischen Hauptstadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2021 offiziell macht. Das Projekt läuft an der Gabroveni-Herberge (Hanul Gabroveni), die jüngst restauriert wurde und nimmt die Form einer Trilogie an, die aus folgenden Teilen besteht: Memoria, Explorarea, Imaginarea Oraşului z.d. das Gedächtnis, die Stadterkundung und die Wahrnehmung der Stadt.

 

Dabei wird die Stadt sowohl zum Handlungsraum, als auch zum Protagonisten. „Bukarest war seinen Schriftstellern gegenüber großzügig, hat ihnen erlaubt, sich von ihrem Kern, ihrer Quintessenz zu ernähren, manchmal in einer schmerzhaften Art, und ließ sich ihrerseits, genau wie ein riesengroßer Vogel, von den Schriftstellern ernähren, die über sie geschrieben haben. Sie haben sich dann Teile ihrer Körper weggeschnitten, damit sie der riesengroße Vogel im Gegezug auf seinem Rücken hin und her transportieren kann. Die in Freunde und Feinde der Stadt geteilten Schriftsteller haben sie alle auch mit Großzügigkeit und lauter Paradoxen belohnt. Sie haben Bukarest sowohl zum Handlungsraum, als auch zur Hauptfigur gemacht. Sie haben sie gleichermaßen verehrt und verdammt.” Wir haben die Schriftstellerin Svetlana Cârstean zitiert, die Kuratorin der Literaturveranstaltungen, die an der Gabroveni-Herberge stattfinden. Die  Schriftstellerin kommt mit Einzelheiten zum Veranstaltungsplan zu Wort:

 

„Bis Mitte Mai läuft die Etappe „Gedächtnis”. Im Vorfeld der Literaturveranstaltungen haben wir die Autoren streng ausgewählt. Wir schlugen den Schriftstellern vor, über Bukarest zu sprechen, während sie sich gegenüber saßen. Wir stellen sie einander gegenüber, um eine interessante Spannung zu schaffen. Sie bringen dabei widersprüchliche Ideen zum Ausdruck. Einige sagen, dass sie Bukarest ohne Vorbehalt lieben, andere sagen hingegen, dass sie sich gegenüber der Stadt fremd fühlen. Einige, dass sie sich nur hier zu Hause fühlen, während andere der Überzeugung sind, dass sie zu jeder Zeit diese Stadt verlassen könnten. Wir haben der Literatur ein dreitägiges Programm gewidmet. Bei einer der Veranstaltungen waren die Schriftsteller Ioana Pârvulescu und Răzvan Petrescu zu Gast, wobei das Gespräch von der Literaturkritikerin Florina Pârjol moderiert wurde. Dann kam die Debatte Adrian Schiop–Mihai Duţescu, moderiert vom Kritiker Paul Cernat. Alle Schriftsteller, die sich an diesem Projekt beteligen, haben bislang in ihren Prosawerken den Beweis einer äußerst tiefen Beziehung zu Bukarest gemacht. Eine andere Debatte stellte die Schriftstellerinenn Gabriela Adameşteanu und Simona Sora gegenüber. Das Gespräch wurde von der Literaturkritikerin Andreea Răsuceanu moderiert. Andreea Răsuceanu möchte ich allerdings zu einer Konferenz einladen, weil sie sich als ausgezeichnete Expertin der literarischen Geographie erweist. Sie arbeitet derzeit an einem Buch zum Thema: Bukarest in der zeitgenössischen Literatur, von Mircea Cărtărescu zu Simona Sora.”

 

 

Im Rahmen des Projektes “Gedächtnis” fand auch ein Gedichtmarathon, moderiert von Svetlana Cârstean, statt, woran sich Adela Greceanu, Florin Iaru, Octavian Soviany, Miruna Vlada und Elena Vlădăreanu beteiligten. Die Kuratorin des Events mit weiteren Einzelheiten: “Jeder dieser Schriftsteller hat eingewilligt, seiner persönlichen Beziehung zu Bukarest Ausdruck zu verleihen. Unser Treffen führte folglich zu einem außergewöhnlichen Resultat und ich möchte das Projekt fortsetzen, weil es so viele Schriftsteller gibt, deren persönliche Erfahrung und Beziehung zu Bukarest ich kennenlernen möchte. Das ist aber nur eines der Projekte. In der Gabroveni-Herberge gibt es auch eine Ausstellung, die ich sehr lieb beigewonnen habe und die mir in der rumänischen Kulturlandschaft wie etwas ganz Außergewöhnliches vorkommt.

 

Es handelt sich um ein kleines Archiv mit alten Bukarest-Fotos. Jeder kann sich eines davon wählen, beim Infokiosk einscannen lassen, und es dann in einem anderen Ausstellungsraum an die Wand kleben und daneben schreiben, was für Erinnerungen das besagte Foto bei ihm weckt. Viele Besucher und auch Schriftsteller haben unseren Vorschlag mit voller Begeisterung angenommen. ”Der erste Teil der der rumänischen Hauptstadt gewidmeten Trilogie, „das Gedächtnis der Stadt” nimmt sich vor, eine kognitive und affektive Karte Bukarests zu schaffen. Die Organisatoren spornen die Einwohner dazu an, sich mit Bildern und Videos aus persönlichen Sammlungen, die verschiedene Ausschnitte aus Dokumentationen ergänzen, am Projekt aktiv zu beteiligen. Die Bukarester haben somit auch die Gelegenheit, ihre persönliche Beziehung zu ihrer Stadt zum Ausdruck zu bringen. Svetlana Cârstean erläutert:

 

„Der Prozess „des Gedächtnisses” begann mit ein paar Menschen und wird, meiner Ansicht nach, mit deutlich mehr weitermachen. Darin liegt auch eines der Ziele unseres Projektes und eines der Kriterien, aufgrund derer jede Kandidatur ausgewertet wird: eine möglichst aktive und glaubwürdige Mobilisierung der Gemeinde. Ich wünsche mir, dass nicht nur Künstler über ihr eigenes Bukarest erzählen, selbst wenn dieser Aspekt beim Publikum viel Neugier weckt. Ich fand besonders interessant, als der Prosaschriftsteller Adrian Schiop sagte: wenn ich Geld haben werde, werde ich mir eine Wohnung im Randviertel Ferentari kaufen. Oder wenn jemand anderes darauf erwiderte, dass er möglichst weit weg von Bukarest gehen möchte. Ich bin selber nicht in Bukarest geboren, ich wuchs in Botoşani auf und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich auf dem Land bei meinen Großeltern. Ich habe also dieses Trauma, mich in einer Stadt einzuleben, zweimal erlebt: einmal als ich nach Botoşani zog, selbst wenn Botoşani eine kleine Stadt ist, und dann als ich in die Metropole Bukarest zog. Ich lebe seit 27 Jahren in Bukarest, theoretisch könnte ich sagen, dass ich mich hier zu Hause fühle. Ich fühle mich dennoch nicht richtig wie zu Hause, die Stadt hat mich mittlerweile nicht komplett adoptiert. Ich habe verschiedene Entwicklungsstadien Bukarests miterlebt, in zahlreichen und voneinander total unterschiedlichen Vierteln gewohnt. Ich glaube, dass mir dieses Projekt die ganze Zeit Überraschungen bereiten wird und es wird mir klar, dass ich mich gegenüber dem Subjekt neu positionieren muss.”  

 

 

Es besteht die Möglichkeit, dass sich Bukarest im Jahr 2021 der langen Liste der europäischen Kulturhauptstädte anschließt. Der nationale Wettstreit der Städte, dessen Gewinner Rumänien dabei vertreten wird, startete im Dezember 2014. Um den Titel kämpfen auch Cluj-Napoca (Klausenburg), Timişoara, Iaşi, Craiova, Arad, Sfântu Gheorghe, Oradea, Alba Iulia (Karlsburg), Brăila und Braşov (Kronstadt).


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Publicat: 2015-08-29 17:30:00
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