Religiöser Pluralismus im Rumänien der Zwischenkriegszeit

religiöser pluralismus im rumänien der zwischenkriegszeit Das Verhältnis der Orthodoxen Kirche zu anderen Glaubensgemeinschaften war nicht immer spannungslos, doch die multikonfessionelle Gesellschaft trug auch zu Dialog und Reformbereitschaft bei.

Rumänien war nach dem Großen Krieg ein ganz anderer Staat als der, der 1859 durch die Vereinigung der Fürstentümer Walachei und Moldau gegründet worden war. Das Königreich Rumänien, das große Gebiete hinzugewinnen konnte, die früher Teil des Russischen und Österreichisch-Ungarischen Reiches gewesen waren, wurde nach 1918 zu einem multiethnischen Staat, der neue Ambitionen hatte und vor neuen Herausforderungen stand. Während religiöse Minderheiten vor dem Gesetz die gleichen Rechte genossen, verschmolzen in der Realität Minderheiten und die Mehrheit zu einer einzigen Gesellschaft, und ihr Gleichgewicht hing oft vom Funktionieren dieser Gesellschaft ab.

 

Das Rumänien der Zwischenkriegszeit, auch Großrumänien genannt, war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher Studien und Publikationen zur politischen und diplomatischen Geschichte. In seinem Buch mit dem Titel „Sectarism and renewal in 1920s Romania. The Limits of Orthodoxy and Nation-Building“ („Sektierertum und Erneuerung im Rumänien der 1920er Jahre. Die Grenzen des Orthodoxie und die Nationenbildung“), untersucht der Historiker Roland Clark, Professor an der Universität Liverpool, den gesellschaftlichen Wandel, den der religiöse Pluralismus in der rumänischen Gesellschaft in den 1920er Jahren bewirkte.

 

Clark stellt fest, dass die Entwicklung der Gesetzgebung und die institutionellen Veränderungen die Entwicklung des demokratischen Lebens in Rumänien in jenen Jahren förderten und das Entstehen eines bürgerlichen Geistes begünstigten. In seinem Buch identifiziert er drei Stimmen, die für den konfessionellen Pluralismus der Zeit charakteristisch sind: die Stimmen der Orthodoxie, des Katholizismus und der neoprotestantischen Konfessionen. Drei Geschichten, die zu einer werden, so Roland Clark:

 

Drei miteinander verwobene, voneinander abhängige Geschichten. Denn man kann nicht über die Gründung des orthodoxen Patriarchats in Bukarest diskutieren, ohne über die Katholiken und die Neoprotestanten zu sprechen. Die neoprotestantische Bewegung verdankt ihrerseits viel den Entwicklungen der orthodoxen Kirche, Entwicklungen, die von den orthodoxen Theologen ausgingen, später von einigen Bischöfen schließlich sogar vom Patriarchen übernommen wurden und die Türen ihrer Kirche für die Laien öffneten. Es sind in der Tat diese Entwicklungen innerhalb der orthodoxen Kirche, die das Entstehen von Bewegungen wie »Cuibul cu barză« (»Das Storchennest«) in Bukarest oder »Oastea Domnului«, (»Die Armee Gottes«), ermöglichten. Dann der Kalender, der zum Erscheinen der Stilistenbewegung führte und die Innozentisten in Bessarabien ermöglichten. All diese sind Teil einer großen Geschichte.“

 

 

Die 1920er Jahre waren die Jahre des Wiederaufbaus nach dem Krieg, aber auch des erneuten religiösen Eifers. Professor Roland Clark ist jedoch der Meinung, dass man das religiöse Phänomen der Zeit nicht studieren könne, wenn man die Ausweitung der politischen Rechte und die Integration der neuen Provinzen in den rumänischen Staat nach 1918 außer Acht ließe:

 

Die Entstehung Großrumäniens ist von enormer Bedeutung. Diese Entstehung hat die Demokratie mitgebracht und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts – [vorerst nur] für Männer. Es bedeutete die Demokratisierung des politischen Lebens, das früher der Oberschicht vorbehalten war. Die Vereinigung Siebenbürgens, der Bukowina, des Banat mit dem Altreich Rumänien fand symbolisch im Rahmen einer neuen Kirche statt. Eine nationale Kirche mit dem Rang eines Patriarchats wurde gegründet. Wie hätte man die Kirche in Siebenbürgen regieren können, die so viele Laien an ihrer Spitze hatte, aber auch die Kirche in Bessarabien im Kontext der russischen Revolution? Sie bekamen somit das Recht, Teil der neuen Kirchenhierarchie zu sein. Als der Erzbischof Miron Cristea, er selbst ein Siebenbürger, zum ersten Patriarchen der Rumänisch-Orthodoxen Kirche befördert wurde, wollte er die Kirche von Bukarest aus leiten. Aber die einflussreichen Erzbischöfe von Siebenbürgen und Bassarabien stellten sich ihm entgegen. Es waren Machtspiele, bei dem jeder die Präsenz und den Einfluss der eigenen Kirche hervorheben wollte.“
 

 

Aber der konfessionelle Pluralismus hatte auch das Auftreten bestimmter evangelikaler Bewegungen aus dem Westen begünstigt. Sie wurden von der orthodoxen Kirche zwar nicht gutgeheißen, aber die gesetzlich garantierte Religionsfreiheit hatte ihr Erscheinen begünstigt und die Ausübung ihres Gottesdienstes sichergestellt. Und dann hinterließ jede religiöse Bewegung ihre Spuren bei den anderen. Der Historiker Roland Clark dazu:

 

Die neoprotestantischen Kirchen hatte nach 1918 dank ihrer Kontakte zur westlichen Welt Wind in den Segeln. Aber das beunruhigte die dominante orthodoxe Kirche, die sich bedroht fühlte, sich umzingelt sah und die Gefahr witterte, überrannt zu werden. Und dieses Gefühl einer belagerten Festung findet sich in allen orthodoxen Schriften und Publikationen der Zeit wieder. Die Orthodoxen stellten ihren Eifer in Frage und beschuldigten sich selbst, nicht religiös genug zu sein.“

 

 

Die Auswirkungen des religiösen Pluralismus machen sich allmählich auch in den starrsten Strukturen und Konfessionen bemerkbar, wie zum Beispiel in der orthodoxen Kirche, sagt Roland Clark:

 

Die orthodoxe Kirche musste sich in den 1920er Jahren weiterentwickeln, wie auch das Christentum. Die Sonntagsmesse, die Pflicht zum Bibellesen, die Einhaltung bestimmter Praktiken in der Öffentlichkeit, anständiges Verhalten, all das hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt. Immer mehr Menschen hatten lesen gelernt, und so wurde die Lektüre von religiösen Büchern zugänglich. Gleichzeitig gab es auch ein echtes Wachstum verschiedener Bewegungen, die eine religiöse Erneuerung förderten, die innerhalb der Gemeinschaften entstanden, ohne das Werk der Elite zu sein.“

 

 

Der religiöse Pluralismus, der in den 1920er Jahren im rumänischen Raum herrschte, ermöglichte die Öffnung der rumänischen Gesellschaft für neue Formen der Spiritualität. Es ist eine Gesellschaft, die von neuen Denkweisen und Weltanschauungen durchzogen ist, von alten Bestrebungen, die wieder aufleben, von anderen, die für eine Reform oder eine Integration mit der westlichen Spiritualität eintreten. Aber einige der Gedankenströmungen, die in den 1920er Jahren durch das rumänische Geistesleben liefen, sollten sich im folgenden Jahrzehnt zu radikalen, ja extremistischen Flutwellen entwickeln.


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Publicat: 2021-03-08 17:30:00
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