120 Jahre rumänischer Sozialdemokratie

120 jahre rumänischer sozialdemokratie Sozialistisches und sozialdemokratisches Gedankengut verbreitete sich Ende des 19. Jh. nur schwer in Rumänien. Das Arbeitermilieu war sehr schwach vertreten, Rumänien war überweigend ein Agrarland.

Im Westen war Sozialismus am Anfang eine Idee und ein Programm zur Sozialreform, das sich vorgenommen hatte, die Arbeiter aus dem wirtschaftlichen Elend heraus zu befördern. Dieser stand in direktem Zusammenhang mit der Industrie, mit der Lebensqualität, aber auch mit den sozial-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Werkeigentümern und ihren Mitarbeitern.

 

Nach dem Wendemoment 1848, nach der Gründung und Konsolidierung des modernen rumänischen Staates in den Jahren 1859 und 1866 beginnt der Sozialismus immer mehr an Zielpublikum zu gewinnen. Die Entwicklung der Industrie schafft jene Sozialschicht, die die Ideen des Sozialismus immer mehr befürwortet. Die sozialistischen Publikationen „Telegraful român“, erscheinen 1865, „Uvrierul“, „Lucrătorul român“, „Analele tipografice“ und „Contemporanul“ bildeten für die sozialistischen und revolutionären Intelektuellen einen Raum, in dem sie ihre eigenen Ideen bekannt machen konnten. Die bedeutendsten Namen waren die Gebrüder Ioan und Gheorghe Nădejde, Panait Muşoiu, Zamfir Arbore, Titus Dunca. Der rumänische Sozialismus erhielt eine starke Infusion an russischem Narodniki-Sozialismus durch die Volkspolitiker Constantin Dobrogeanu-Gherea, Nicolae Zubcu-Codreanu, N. Russel, alle Einwanderer, die vom zaristischen Regime für ihre Ideen verfolgt wurden.

 

Dobrogeanu-Gherea, der berühmteste und einflussreichste rumänische Sozialismustheoretiker des 19. Jh., hatte eine äußerst schwierige Mission. Während er allen, die Sozialismus als fremd für den rumänischen Geist empfanden, eine Antwort liefern musste, war er auch gezwungen, die marxistische Theorie der Industriegesellschaft einer Agrargesellschaft anzupassen. Der Soziologe Călin Cotoi zeigt, welchen Platz die Sozialisten in dem Gedankenfeld der rumänischen Öffentlichkeit einnahmen und welche Rolle insbesondere Gherea spielte:

 

„Der Fall Gherea ist besonders interessant, weil man bei ihm sehr stark die Spannung zwischen der Theorie der Formen ohne Inhalt und der marxistischen Theorie empfand. Die Mehrheit von Ghereas Argumenten hatte ein sehr deutliches Ziel und zwar die Existenz eines lokalen Sozialismus zu legitimieren. Für ihn war die Kritik an den rumänischen Sozialismus eine, die man durch die Formel »in Rumänien ist Sozialismus eine exotische Pflanze« zusammenfassen konnte. Mit anderen Worten waren Sozialisten seltsame Menschen, die aus revolutionärer und moralischer Sicht natürlich sehr sympathisch waren, die aber nichts zu sagen hatten. Bei den Rumänen schlug die Rethorik des Sozialismus keine Wurzeln. Ghereas recht interessante Strategie war, die Gesellschaft in etwas Exotisches umzuwandeln und den Sozialismus in etwas Normales. Die rumänische Gesellschaft war in der Auffassung Ghereas monströs, sie verkörperte für ihn eine neue Leibeigenschaft, was nicht der normalen Welt entsprach. Er sprach daher mit Nachdruck über eine abweichende rumänsiche Welt. Das größte Problem, sagt Gherea, sei, dass man in der Bewertung der rumänischen Gesellschaft dieselben Begriffe wie im Westen verwenden müsse. Und diese bedeuten dort etwas und hier bei uns etwas ganz anderes. Er stellt sogar ein formales Prinzip auf, um die Abnormität der rumänischen Gesellschaft zu erläutern, und nennt es ‚Gesetz der sozialen Umlaufbahn‘.“

 

Die Gründung der ersten rumänischen sozialistischen Partei, der Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei Rumäniens, am 31. März 1893, kam nur mühevoll zustande. Auch nach ihrer Gründung hatte die Partei kein besseres Schicksal. Vor dem Hintergrund, dass es kein allgemeines Wahlrecht gab, war die Wählerschaft der Partei sehr klein. Das Parteiprogramm wurde von Dobrogeanu-Gherea nach dem Programm von Erfurt der Sozial-Demokratischen Partei Deutschlands erarbeitet. Gherea dachte, dass die Form, also die Idee, schrittweise auch den Inhalt schaffen würde, also die kritische Masse an Wählern. Călin Cotoi:

 

Seine Strategie war, die rumänische Gesellschaft als etwas Exotisches darzustellen, deren Abnormität zu entdecken, um die Normalität der sozialistischen Einstellung gegenüberzustellen, was teilweise auch funktioniert. Zu einem gewissen Zeitpunkt sagt er: Der Sozialismus ist genauso wie der Liberalismus in Rumänien. Hätte es den Liberalismus nicht gegeben, hätte es kein modernes Rumänien gegeben. Sozialismus sei die nächste Stufe. Stellen Sie sich nur vor, sagt er, wie der Stand heute gewesen wäre, wenn die rumänischen Liberalen ihre Reformen 1770 statt erst 1848 eingeführt hätten. Das ist Ghereas Hauptargument. Interessant ist auch, dass Gherea, als er gewissermaßen mit dem Rücken an die Wand gestellt wurde, mit den Argumenten der russischen Narodniki begründet hat, warum Sozialismus notwendig sei. Er sagte, dass Sozialismus eine Verpflichtung dem Arbeitervolk gegenüber sei, das uns und unsereins durch seinen Schweiß ernährt, bekleidet und großgezogen habe. Der Sozialismus Ghereas ist eher emotional und moralisierend. Was dem rumänischen Sozialismus der Jahrhundertwende entspricht, war eher eine Subkultur des Sozialismus. Es handelte sich um kleine Menschengruppen, die Naturwissenschaften in emotionaler Weise betrieben. Bei einem Blick in die sozialistische Zeitung »Contemporanul« stellt man fest, dass es dort viele naturwissenschaftliche Artikel gibt. Es handelt sich also um eine Mischung von Emotionalität, Naturwissenschaften, Moralität und sozialem Wandel.“

 

Trotz der beträchtlichen Bemühungen blieben die Sozialdemokratie und deren Partei in Rumänien bis nach dem Ersten Weltkrieg eher eine Randerscheinung der hiesigen Politik. Linkes Gedankengut wurde im späten 19. und zu Beginn des 20.  Jahrhundert vielmehr als eine Leidenschaft einiger verträumter Intellektueller und weniger als ernstzunehmende Lösung betrachtet.

 

Audiobeitrag hören:

 


www.rri.ro
Publicat: 2013-08-05 13:27:00
Vizualizari: 2086
TiparesteTipareste