Bibliotherapie: Wenn gute Bücher weiterhelfen
Bestimmt kennen Sie das: Sie lesen einen guten Roman und hinterher bleibt so ein sonderbares Gefühl. Das Gelesene hat Sie inspiriert, womöglich auch befreit oder vielleicht angestachelt.
Ana-Maria Cononovici, 05.12.2019, 17:30
Auch wenn die Zahl der Menschen, die gerne lesen, konstant zurückgeht, gibt es immer noch einige, die sich für Bibliotherapie interessieren. Zumindest ist dieser der Eindruck, der erweckt wird, wenn man das neuerdings auf dem rumänischen Buchmarkt erschienene Angebot untersucht. Es handele sich allerdings nicht um eine neue Idee, sagte uns unsere Gesprächspartnerin, die Buchverlegerin und Bibliotherapeutin Alexandra Rusu:
Das Konzept der Bibliotherapie haben nicht wir erfunden. Es ist eine ältere Praxis, die schon 1920 in Amerika ausgeübt wurde. Sie entwickelte sich als Abzweigung der Psychotherapie. Sie wurde sogar in Krankenhäusern als Behandlung eingesetzt und führte zu guten Resultaten bei Depressionen. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass die Bibliotherapie — also die Empfehlung von Büchern je nach psychologischem Profil — positive Ergebnisse ergibt. Sie wurde auch bei den Soldaten, die aus Vietnam zurückgekehrt waren und unter posttraumatischem Stress litten, eingesetzt. Anscheinend lasen diese sehr viel Jane Austin. Das waren die Anfänge der Bibliotherapie. Später wurde die Bibliotherapie aus der Praxis des Psychotherapeuten in die Verlage und Buchhandlungen verlegt. Die Buchhändler begannen, Bibliotherapie auszuüben im dem Sinne, dass sie personalisierte Buchempfehlungen machten. Ich meine, wir alle werden zu Bibliotherapeuten, wenn wir einem Bekannten ein Buch empfehlen, weil wir ihn/sie gut kennen und einen bestimmten Zweck verfolgen.“
Zwar mag das Konzept alt sein, das Projekt sei allerdings neu, sagte uns unsere Gesprächspartnerin, die die genannte Initiative startete:
Alles begann mit ein paar Eins-zu-eins-Begegnungen, genau wie bei einer Therapiesitzung und dennoch ohne jegliche Verbindung mit der Psychotherapie. Es handelt sich tatsächlich um Gespräche zur persönlichen Entwicklung. Aber ich bin kein Psychotherapeut. Ich bin Psychologin und Buchverlegerin. Ich empfehle Bücher, je nachdem wie ich meine Kunden aus psychologischer Sicht betrachte, wie ich ihre Persönlichkeit einschätze. Ich führe ein freies, hemmungsloses Gespräch mit meinem Gegenüber und je nachdem, was ich von ihm erfahre, empfehle ich das Buch, das ich für angemessen halte. Ich muss noch betonen, dass bis jetzt nur Frauen zur Bibliotherapie gekommen sind.“
Wir wollten von Alexandra Rusu erfahren, ob sich viele Menschen für Bibliotherapie interessieren und aus welchen Gründen.
Die Gründe, aus denen die Leute auf Bibliotherapie zurückgreifen, sind sehr vielfältig. Meistens geht es um Frauen, die auf Schwierigkeiten im Leben stießen und nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Viele machen die sogenannte Midlife Crisis durch. Manche sind vor kurzem Mütter geworden, andere brachten jüngst ihr zweites Kind zur Welt. Und sie erleben eine Zeit, die einen Bruch zur bisherigen Lebensweise oder eine zu ihrem bisherigen Leben entgegengesetzte Fortsetzung voraussetzt. Und sie suchen nach Antworten, einschließlich in Büchern. Manchmal empfehlen ihnen ihre Freunde Bücher zum Lesen. Doch sie spüren den Drang, mehr zu gewissen Themen zu lesen, Themen, für die sie sich extra interessieren. Ich bin bereit, mit ihnen über das Thema zu sprechen, um herauszufinden, was sie eigentlich beschäftigt. Die meisten wissen ganz genau, was sie bedrückt. Es gibt auch eine kleinere Gruppe von Menschen, die sich in ihrem beruflichen Bereich spezialisieren und zu dem Thema mehr lesen wollen. Da kennen sie sich besser als ich aus, weil sie ja letztendlich die Fachleute sind. Sie brauchen die Bücher, um ihre Perspektive zu erweitern.“
Alexandra Rusu meinte, sie glaube nicht zu 100% an Leseempfehlungen, die gezielt für eine bestimmte Altersgruppe oder ab einem bestimmten Alter gemacht werden.
Ich unterhielt mich vor kurzem zu diesem Thema mit einigen Freunden. Es ging um Literatur für Kinder und Jugendliche und um die Empfehlungen, die die Verlage und die Buchhandlungen diesbezüglich machen. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, muss ich feststellen, dass die meisten Bücher, die ich als Jugendliche gelesen habe, eigentlich Bücher für Erwachsene waren. Heutzutage würden sie sehr weit von diesem Regal liegen. Also konnte ich mich nicht davon abhalten, zu denken, dass diese Etiketten etwas künstlich sind. Zwar können sie nützlich sein, wenn sich jemand beeilt und schnell ein Buch aussuchen möchte. Oder wenn man etwas will, dass genau einem Rezept entspricht. Sucht man aber einen tieferen Sinn, so sind die Etiketten kaum hilfreich. Nicht einmal bei Kindern helfen sie wirklich weiter. Viele Kinderbücher wurden von Erwachsenen für andere Erwachsene geschrieben, haben also einen doppelten Lektüreschlüssel. Ihr Humor richtet sich vielmehr an die Erwachsene, ist von Kindern schwierig zu verstehen. Im Gegenzug, manche Bücher für Erwachsene, wie zum Beispiel die Dada-Poesie, wird sehr geschätzt von Kindern. Diese Kategorien können einfach ausgetauscht werden. Wir müssen halt unseren Geschmack finden.“
Was sie den Lesern allgemein zu dieser Jahreszeit zum Lesen empfehlen würde — das fragten wir Alexandra Rusu zum Schluss unseres Gesprächs. Ihre Antwort: Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben. Warum sollten wir dieses Buch lesen?
Für die Menschen, die in Rumänien leben und etwas älter als 35 Jahre alt sind, so wie ich, ist es ein sehr spannendes Buch. Es geht um das geheime Leben der Bäume und erzählt über die Bedeutung der Wälder. Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen diesbezüglich in Rumänien, würde ich meinen, dass es ein sehr aktuelles Thema ist. Denn die Wälder sind Gemeinschaften, über die wir nur wenig wissen. Die Bäume kommunizieren untereinander über verschiedene Wege. Es wird viel erzählt über die Bäume, die mehr von der Sonne profitieren und über diejenigen, die vielmehr im Schatten wachsen. Wir erfahren, wie sie manchmal ihre Zweige und Blätter aufgeben, damit auch die anderen, die nicht so viel Sonne hatten, sich an den Sonnenstrahlen erfreuen können. Ich empfehle dieses Buch, wir können so viel daraus lernen. Da geht es nicht lediglich um Biologie, sondern um Gemeinschaft, gegenseitige Unterstützung und Zusammenleben.“
Und das war eine erste Sitzung Bibliotherapie — unter der Form einer Allegorie des Überlebens.