Von der Vision zur Wirklichkeit – Die Entstehung der Nationalkathedrale Rumäniens
Rumänien war das einzige mehrheitlich orthodoxe Land der Welt, das keine Nationalkathedrale besaß – ein seit über eineinhalb Jahrhunderten bestehendes Ziel, das nun Wirklichkeit geworden ist.
Roxana Vasile, 05.11.2025, 22:51
Rumänien war das einzige mehrheitlich orthodoxe Land der Welt, das keine Nationalkathedrale hatte, obwohl die Idee zum Bau eines solchen Gotteshauses bereits im 19. Jahrhundert entstanden war. Der Sprecher der rumänisch-orthodoxen Patriarchenirche, Adrian Agachi, erläutert:
„Der Erste, der über die Notwendigkeit einer Nationalkathedrale sprach, war der Nationaldichter Mihai Eminescu, der unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg (1877–1878) erklärte, ein solches kirchliches Bauwerk sei notwendig. Später erließ König Karl I. im Jahr 1884 das erste Gesetz über den Bau einer Nationalkathedrale und stellte dafür damals 5 % des Bruttoinlandsprodukts des Königreichs Rumänien bereit. Mit den beiden Weltkriegen und anschließend der kommunistischen Zeit konnte das Projekt nicht mehr verwirklicht werden. Mit Ausnahme der Amtszeit von Patriarch Miron Cristea, der versuchte, einen geeigneten Standort für den Bau der Nationalkathedrale zu finden und erstmals von der ‚Kathedrale der Erlösung des Volkes‘ sprach – wobei er unter diesem Begriff die Unabhängigkeit und Befreiung des rumänischen Volkes aus der schwierigen Zeit verstand, die es gerade überwunden hatte –, blieb das Projekt bis nach der Revolution von 1989 weitgehend in der Schwebe. Es wurde immer weniger darüber gesprochen, und angesichts der begrenzten Möglichkeiten kam das Vorhaben nicht so voran, wie wir es uns gewünscht hätten. Seit 1990 jedoch begann die Idee einer Nationalkathedrale zunehmend Gestalt anzunehmen, zunächst unter dem seligen Patriarchen Teoctist und ab 2007 nicht mehr nur als bloßes Konzept, sondern als konkrete Realität unter der Schirmherrschaft von Patriarch Daniel.“
Aus Sicht von Cătălin Raiu, Dozent an der Universität Bukarest, war die rumänische Gesellschaft in dieser Hinsicht im Rückstand – nämlich darin, ein zentrales, emblematisches Gotteshaus zu besitzen, das den orthodoxen Glauben symbolisiert, die religiöse Identität der Bevölkerungsmehrheit definiert und die Geschichte der Rumänen auch kulturell prägt. Daher sei die neue Nationalkathedrale, so Raiu, einerseits eine Zusammenfassung der Geschichte und andererseits ein Ort, an dem sich künftig die gesamte rumänische Gesellschaft – nicht nur die orthodoxe – als Glaubensgemeinschaft versammeln werde:
„Fast alle mehrheitlich orthodoxen Länder hegten dieses Bestreben etwa gleichzeitig mit dem unseren, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die europäischen Nationen, vor allem die orthodoxen, aus verschiedenen Imperien lösten und ihr nationales, eigenständiges Bewusstsein entwickelten. Sie versuchten, eine Kathedrale zu errichten, die gewiss ein religiöses Symbol ist, zugleich aber auch ein politisches – im weiteren Sinn des Nationenaufbaus, als Ausdruck ihrer Identität vor der Geschichte. Und da Rumänien in dieser Hinsicht im Rückstand war – Bulgarien hat eine solche Kathedrale, ebenso Serbien; Georgien hat eine in den letzten 10–15 Jahren gebaut und inzwischen fertiggestellt –, glaube ich, dass Rumänien nun in den Kreis jener mehrheitlich orthodoxen Länder eintritt, die dieses historische Kapitel schließen, das – wie gesagt – die Errichtung eines religiösen, kulturellen und historischen Identitätssymbols verlangte.“
Die meisten Rumänen nahmen den Bau der Kathedrale mit Stolz, Freude und Hoffnung auf, doch auch die Zahl der Kritiker war nicht gering. Ihr Hauptvorwurf lautet nach wie vor, dass die öffentlichen Gelder, die für die Errichtung des imposanten Gotteshauses verwendet wurden, besser in Infrastrukturprojekte im Bereich Verkehr, Bildung oder Gesundheit hätten fließen sollen – alles Bereiche, die für das Land von großer Bedeutung sind. Der bekannte Slogan „Wir wollen Krankenhäuser, keine Kathedralen!“ oder „Gott bevorzugt Holz und kleine Räume“ aus einem anti-kirchlichen Lied der Pop-Rock-Band Taxi spiegeln den Unmut der Gegner wider.
Dazu entgegnet Dr. Cătălin Raiu:
„Kirchen und Krankenhäuser sind – und sollten – als komplementäre Dinge behandelt werden, ich würde sie nicht gegeneinander ausspielen. Das erscheint mir ein ziemlich gefährlicher Trugschluss. Zu meiner Überraschung, um auch etwas Positives zu betonen, habe ich unter den Kritikern, die solche Slogans verwendeten, Menschen gesehen, die wirklich beeindruckt sind, dass dieses Bauwerk vollendet wurde, dass es sehr schön aussieht, dass es ein Wahrzeichen Bukarests und Rumäniens sein wird. Viele von ihnen identifizieren sich inzwischen nicht mehr unbedingt mit diesem Slogan. Sie haben praktisch gesehen, dass die Kirche eine Baustelle – und ich meine nicht nur im materiellen Sinn, sondern auch ein identitäres Projekt – übernommen und viel kohärenter und effizienter als der Staat zu Ende geführt hat. Und das sollte uns zu denken geben: Warum gelingt es der Kirche, während der Staat manchmal mit diesem Rhythmus nicht Schritt hält?“
Ende 2007 legte Patriarch Daniel den Grundstein für das neue Bauwerk, und ab Ende 2010 begann der eigentliche Bau der Nationalkathedrale. Laut dem Sprecher des rumänisch-orthodoxen Patriarchats, Adrian Agachi, beliefen sich die bisherigen Kosten auf 270 Millionen Euro – und das, obwohl die Arbeiten zum größten Teil abgeschlossen sind. Zudem wurden diese Mittel über 15 Jahre verteilt ausgegeben. Auch im Vergleich zu ähnlichen Projekten, etwa der Restaurierung der Kathedrale Notre-Dame in Paris, sei diese Summe gering. Die Finanzierung erfolgte aus staatlichen und kommunalen Haushalten, aus Eigenmitteln der Kirche sowie aus Spenden von Gläubigen. Für diese, so Cătălin Raiu, sei der Bau der Kathedrale ein Triumph:
„Die Gesellschaft muss verstehen, dass die Kirche an ihrer Seite steht, indem sie dieses Projekt trotz vieler Schwierigkeiten – auch gegen Widerstände, teils aus der Öffentlichkeit, teils aus der Politik – zu Ende geführt hat. Die Kirche bleibt eine relevante Institution, solange sie in der Lage ist, ein solches Bauwerk auf die öffentliche Agenda zu setzen – sowohl im spirituellen als auch im materiellen Sinn – und es erfolgreich zu verwirklichen.“
Die Nationalkathedrale wird ihre Ausstrahlung verstärken und ihren Rang als Flaggschiff der rumänischen Gotteshäuser in den kommenden Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, festigen – meint ein Journalistenkollege. Der Anfang ist jedenfalls gemacht: Nach mehr als 150 Jahren, in denen sie nur ein Wunschtraum war, existiert die Kathedrale nun wirklich.