Europas Gretchen-Frage: Wie geht der Ukraine-Krieg aus?
Europa muss lernen, in einer gefährlichen Nachbarschaft zu leben – und gleichzeitig bereit sein, sich selbst zu verteidigen, eng abgestimmt mit der NATO. Darin sieht der Osteuropa-Experte Armand Goșu die große Bewährungsprobe für Europa:
Corina Cristea, 14.11.2025, 15:20
Der Vorstoß der Europäischen Union, ihre Verteidigung und ihre strategische Rolle neu zu denken, kommt in einer Welt voller Spannungen und geopolitischer Verschiebungen zum Tragen – nach mehr als sieben Jahrzehnten Frieden und Wohlstand in Europa, bevor der Krieg an seine Grenzen zurückkehrte. Unberechenbarkeit prägt die Lage im Ukraine-Konflikt. Alte Gewissheiten bröckeln. Jahrzehntelang stützte sich der Kontinent auf den amerikanischen Schutzschirm und auf die NATO. Heute gilt die starke Abhängigkeit von US-Ressourcen und -Technologie zunehmend als Schwachpunkt. Damit rückt die oft beschworene strategische Autonomie Europas in den Blick – nicht gegen die USA, sondern für ein ausgewogeneres Verhältnis innerhalb des westlichen Bündnisses. Zumal der Krieg in der Ukraine kein Ende erkennen lässt.
Wie und wann dieser Krieg endet, das ist die Frage, auf die alle eine Antwort suchen. Der Historiker und Osteuropa-Experte Armand Goșu sagt dazu:
„Es gibt mehrere Szenarien. Einige negative, die sich Putin wünschen würde: der Zusammenbruch der Ukraine, ihre Kontrolle durch Russland – ein Teil direkt durch Besetzung, ein anderer über eine Art Belarus 2.0 unter kremltreuen Politikern. Dann gibt es weniger schlechte, aber dennoch ungünstige Szenarien, die zugleich am wahrscheinlichsten sind: ein Krieg mit geringerer Intensität über viele Jahre. Das würde Europa und den Westen zwingen, Entscheidungen über die Ukraine zu treffen. Denn auch wenn diese Szenarien keine ukrainische Niederlage bedeuten, schadet die Verlängerung des Kriegs sowohl dem Westen als auch der Ukraine. Die Haltung, einfach abzuwarten, bis Russland kollabiert, bis die Biologie die Putin-Frage klärt ist keine gesunde Reaktion auf die russische Aggression. Und schließlich gibt es positive Szenarien: eine demokratische Rückkehr Russlands, eine Orientierung nach Europa, ein europäisches Wirtschaftsmodell, bessere Beziehungen – und ein Rückzug aus der Ukraine bei Anerkennung ihrer Souveränität. Insgesamt liegen viele Szenarien vor uns, einige besser, die meisten jedoch schlecht oder sehr schlecht.“
Vor diesem Hintergrund arbeitet die EU an einer neuen Verteidigungsarchitektur. Zu bestehenden Programmen wie PESCO und dem Europäischen Verteidigungsfonds kommen neue Projekte hinzu, etwa die Initiative SAFE (Strategic Armament and Forces for Europe). Sie soll eine gemeinsame Basis für Rüstungsproduktion und -beschaffung schaffen, Verteidigungskapazitäten besser koordinieren und die derzeitige Fragmentierung abbauen – etwa die Vielzahl unterschiedlicher europäischer Panzer-, Flugzeug- und Artilleriesysteme. Ziel ist eine einheitlichere, effizientere europäische Rüstungsindustrie.
Armand Goșu kommentiert:
„Unter dem Druck Russlands entstehen Entwicklungen, die sonst sicher nicht stattgefunden hätten. Krieg zwingt dazu, Prioritäten neu zu setzen. Verteidigung rückt wieder ins Zentrum der westlichen Agenda. Vielleicht nicht so schnell, wie wir es uns wünschen würden. Gleichzeitig darf man nicht vergessen: Europa ist eine riesige, komplexe, bürokratische Maschine. Ist sie erst einmal in Bewegung, lässt sie sich kaum stoppen. Europas Ressourcen sind weit größer als die Russlands. Sicher, Europa hat nicht den kämpferischen Enthusiasmus Russlands – wobei auch die russische Armee weitgehend eine Armee gegen Bezahlung ist, ein Söldnersystem. Und Europa ist in dieser Hinsicht deutlich reicher. Es gibt Dynamik, es bewegt sich etwas.“
Wie der Krieg endet, bleibt offen: durch Verhandlungen, als eingefrorener Konflikt über Jahre, mit ungewissem Ausgang. Klar ist nur: Europa muss lernen, in einer gefährlichen Nachbarschaft zu leben – und gleichzeitig bereit sein, sich selbst zu verteidigen, eng abgestimmt mit der NATO. Darin sieht Goșu die große Bewährungsprobe für Europa:
„Europa muss klären, wohin es will. Föderalisierung? Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten? Eine gemeinsame europäische Armee? Oder setzen wir auf Interoperabilität – zwischen den Armeen Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Spaniens, Rumäniens, Polens, des Baltikums und Skandinaviens? Oder gehen wir weiter und bauen einen Kern einer europäischen Armee? Die ideale Variante kennen wir nicht. Ich glaube nicht, dass wir noch Zeit haben, eine vollwertige europäische Armee mit komplexen Befehlsketten aufzubauen. Wir sollten die jahrzehntelangen Kooperationsstrukturen der NATO nutzen und sie auf bilaterale oder kleine multilaterale Formate innerhalb Europas übertragen – kleinere militärische Allianzen. Wir sollten realistischer handeln, schneller werden und die Interoperabilität stärken.“
Denn Frieden wird nicht nur durch Verträge und Handel gesichert, sondern auch durch gemeinsame Verteidigungsfähigkeit.