Nato: „Im Moment ist der Hauptgegner die Russische Föderation“
Die Nato ist nach wie vor entschlossen, dem russischen Aggressionskrieg in der Ukraine entgegenzuwirken. Wir haben die jüngsten Entwicklungen in der Weltpolitik unter die Lupe genommen uns dabei auch mit zwei Militärexperten unterhalten.
Corina Cristea, 16.06.2023, 22:00
Der russische Präsident Wladimir Putin habe einen Fehler gemacht, als er die Ukraine und die NATO unterschätzt habe, und das Bündnis bleibe verpflichtet, Kiew so lange wie nötig“ zu unterstützen, bekräftigte unlängst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Nach Ansicht des Militärchefs wäre es eine große Tragödie für die Ukrainer, wenn Präsident Putin gewinnt, doch wäre es auch gefährlich für die demokratische Welt, denn dass hieße, dass autokratische Führer wie Putin oder jene in Peking ihre Machtansprüche mit Gewalt durchsetzen könnten. Und das wiederum würde die NATO-Verbündeten, die USA und Europa, verwundbarer machen. Wir wissen nicht, wie dieser Krieg enden wird; wir wissen jedoch, dass wir nach Ende dieses Kriegs fähig sein müssen, zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt“, so Jens Stoltenberg weiter.
Parallel zu ihrer Unterstützung für die Ukraine bereitet sich die NATO auf grundlegende Veränderungen vor. Das Bündnis musste jahrzehntelang keine groß angelegten Verteidigungspläne entwickeln, weil das postsowjetische Russland zunächst nicht mehr als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde. Doch nun bereitet sich die NATO darauf vor, auf ihrem nächsten Gipfel einen großen Schritt nach vorn zu machen. Laut einer Reuters-Analyse wird erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs der NATO in Vilnius geheime Militärpläne verabschieden werden, in denen zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg detailliert dargelegt wird, wie das Bündnis auf einen russischen Angriff reagieren würde.
Die Analyse geht von der Aussage eines hochrangigen NATO-Militärs, Rob Bauer, aus, der gesagt hatte, dass der grundlegende Unterschied zwischen Krisenmanagement und kollektiver Verteidigung darin bestehe, dass nicht das Bündnis, sondern der Gegner den Zeitplan der Ereignisse bestimme. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass jederzeit ein Konflikt ausbrechen kann“, so Bauer wörtlich. George Scutaru, Leiter des rumänischen Thinktanks New Strategy Center“, erläutert:
Es gibt verschiedene Hypothesen über die Entwicklung dieses Konflikts in der Ukraine. Und eine der Hypothesen, die berücksichtigt werden muss und nicht ignoriert werden kann, ist die einer Eskalation, die schließlich zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und der Russischen Föderation führen könnte — verursacht durch das aggressive Verhalten Russlands. Die Streitkräfte müssen ein solches Szenario in Betracht ziehen, ebenso wie die Politiker eine solche Arbeitshypothese, die von den Militärexperten auf den Tisch gelegt wird, ernst nehmen müssen. Letztendlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass dies im gegenwärtigen Kontext geschieht, denn wir sehen, dass der Krieg weitergeht, die Aggression Russlands lässt nicht nach, im Gegenteil — sie nimmt zu. Putin und die politische und militärische Führung Russlands zeigen keine Anzeichen, dass sie an einer Friedenslösung interessiert sind. Und die jüngsten Entwicklungen steuern auf einen Zermürbungskrieg zu, der andauern wird und der auch zu einem unerwünschten Verlauf, einer plötzlichen Eskalation der Situation führen kann. Das hängt davon ab, wie sich Russland weiter verhalten wird, und darauf müssen wir vorbereitet sein.“
Das Schwarze Meer habe sich als ein besonders verwundbares Gebiet erwiesen, man könnte sogar sagen, als die größte Schwachstelle in der Sicherheit des Kontinents, fügt George Scutaru hinzu. In dieser Region sind die meisten eingefrorenen Konflikte Europas zu finden, volkerrechtswidrige militärische Eingriffe, angefangen mit Georgien, dann mit der Annexion der Krim und jetzt mit Russlands Invasion in der Ukraine im großen Stil. Daher müsse das Bündnis darauf vorbereitet sein, alle Optionen in Betracht zu ziehen. Die Welt muss verstehen, dass die NATO in der Lage ist, sich jeder Herausforderung zu stellen“, so der Leiter des Thinktanks New Strategy Center“.
Doch was bedeutet das für den anstehenden Nato-Gipfel in Vilnius? Hat sich etwas im Krisenmanagement geändert. Diese Frage stellten wir dem unabhängigen Militäranalysten Claudiu Degeratu:
Die Perspektive hat sich in der Tat grundlegend geändert, denn ein Verteidigungsplan, wie er vor 1989 in der NATO erstellt wurde und wie er auch jetzt erstellt wird, berücksichtigt das Bedrohungsprofil eines Gegners. In den letzten 30 Jahren haben wir über NATO-Pläne für Krisensituationen, für Fernkämpfe und für Eingreifen außerhalb unseres Artikel-5-Gebiets gesprochen. Bisher planten wir unsere militärischen Operationen im Zusammenhang mit konkreten Situationen, und nicht auf einen Gegner bezogen. Im Moment ist der Hauptgegner die Russische Föderation, und die NATO hat auf der Grundlage der Madrider Beschlüsse vom letzten Jahr ein Verteidigungs- und Abschreckungskonzept für den gesamten euroatlantischen Raum entwickelt. Es handelt sich also um einen Verteidigungsplan, wie wir ihn seit 1989 nicht mehr hatten und der sich von dem vor 1989 für den gesamten europäischen strategischen Raum unterscheidet. Um es klar zu sagen, wir sprechen tatsächlich über den atlantischen Raum bis hin zur Ostfront, also dem Baltikum zu Polen und Rumänien, und vom Norden, beginnend mit Norwegen, bis zur Südflanke, also dem Mittelmeerraum. Zum ersten Mal werden wir auch nationale Verteidigungspläne haben, die im Einklang mit diesem umfangreichen Konzept der Abschreckung und der Verteidigung des europäischen strategischen Raumes stehen müssen. Sie werden auf NATO-Ebene integriert sein und müssen darüber hinaus in das neue NATO-Streitkräftemodell integriert werden, das aus drei Truppenkontingenten bestehen und etwa 800 000 NATO-Soldaten mit unterschiedlichen Dienstgraden und Reaktionsmöglichkeiten umfassen soll. Die NATO muss in der Lage sein, dieses Konzept zu nutzen, um unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Situationen und bei verschiedenen möglichen Entwicklungen im gesamten europäischen strategischen Raum gleichzeitig eingreifen zu können.“
Die Russische Föderation müsse begreifen, dass die NATO in der Lage sein wird, in verschiedenen Gebieten mit denselben Streitkräften und der gleichen Schlagkraft und Fähigkeit zum sofortigen Kampf einzugreifen, so der Militärexperte Claudiu Degeratu.