Katastrophengeschichte: der Eisenbahnunfall von Ciurea
In der Silvesternacht des Jahres 1916 ereignete sich nahe des Ortes Ciurea in Ostrumänien der schwerste Eisenbahnunfall in der Geschichte Rumäniens. Etwa 1000 Menschen verloren ihr Leben.
Steliu Lambru, 18.01.2021, 17:30
Rumänien war im August 1916 an der Seite der französisch-anglo-russischen Allianz in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Nach fast vier Monaten heftiger Kämpfe besetzte die deutsche Armee am 6. Dezember 1916 die rumänische Hauptstadt Bukarest. Die rumänischen Behörden zogen sich in die Moldau zurück, doch der Rückzug verlief weitgehend chaotisch. Mitten in diesem Chaos ereignete sich in der letzten Nacht des Jahres 1916 in der Nähe von Iaşi das schwerste Zugunglück der rumänischen Geschichte.
Dorin Stănescu ist Historiker und Eisenbahnwissenschaftler und hat über die Katastrophe in Ciurea geforscht. Ihm zufolge wurden auf einem 1330 km langen Schienennetz in der Moldau 1000 Lokomotiven und etwa 25.000 Waggons einrangiert, die gesamte Eisenbahnflotte von Rumänien. Dies führte zur Sperrung der Gleise und zu starken Störungen im Bahnverkehr. Für Dorin Stănescu begann die Geschichte des Vorfalls mit dem Tag des 30. Dezembers. Die Lage an Bord des überfüllten Zugs beschreibt der Historiker anschaulich:
In dem Kontext, in dem sich die rumänische Armee in Richtung Moldau absetzte, fuhr am 30. Dezember 1916 ein Zug aus Galaţi ab, einer Stadt, die von der deutschen Armee bombardiert wurde und vor einer drohenden Besetzung stand. Dieser Zug fuhr mit einigen Stunden Verspätung nach Iaşi ab. Er war völlig überfüllt, weil so viele Zivilisten nach Iaşi flüchten wollten und auch Soldaten nach dem Heimaturlaub wieder in ihre Kaserne zurückkehren mussten. Auch viele russische Soldaten waren an Bord. Zu den Passagieren gehörten auch Prominente wie der ehemalige Finanzminister Emil Costinescu, die Tochter des ehemaligen französischen Botschafters in Bukarest, Yvonne Blondel, und der Geograph George Vâlsan. Der Zug wurde auch immer länger, weil unterwegs weitere Waggons dazukamen, die einfach gestürmt wurden. Viele Reisende wollten unbedingt in den Zug einsteigen, auch auf den Dächern der Waggons saßen Menschen. Infolgedessen wurde der Zug von Haltestelle zu Haltestelle immer länger und voller. Ich habe am Beispiel der Waggons und ihrer Fläche schätzungsweise ausgerechnet, wie viele Fahrgäste sich in den Abteilen, in den Gängen und auf den Dächern der Waggons befinden würden. Dabei stellte sich heraus, dass bis zu 5.000 Menschen in diesem Zug reisten, während der Zug normalerweise nicht mehr als tausend befördern konnte. Die Menschen waren verzweifelt, sie wollten aus Galaţi fliehen, und die Soldaten wollten zurück in die Kaserne.“
Am 31. Dezember 1916 näherte sich die Fahrt des Galaţi-Iaşi-Zuges ihrem Ende — es sollte ein tragisches sein, erläutert der Historiker Dorin Stănescu weiter:
Am 31. Dezember erreichte der Zug Bârlad und blieb in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember stehen. Am nächsten Tag waren es noch 120 km bis Iaşi. Der Zug kam um Mitternacht in Ciurea an, einer Ortschaft und Bahnstation, die einige Kilometer von der Stadt entfernt in einem Tal liegt. Der Winter war hart und es gab starke Schneefälle. In dem Moment, in dem der Zug begann, talabwärts zu fahren, versuchten die Lokmechaniker abzubremsen. Aber bei dem überfüllten Zuges war das viel schwerer als üblich. Der Zug fuhr mit sehr hoher Geschwindigkeit talabwärts und entgleiste.“
Im Bahnhof Ciurea selbst waren alle Gleise voll mit Personenzügen und Tankwagen mit Öl. Als der Zug vom Gleis abkam, krachte er in andere Wagen und verursachte eine starke Explosion. In der Nähe des Bahnhofs Ciurea befand sich zudem ein Munitionsdepot, das von der Explosion erfasst wurde. Zeitzeugen berichteten von erdbebenartigen Explosionen. Viele Menschen wurden in den Schnee geschleudert, aber noch viel mehr starben eingequetscht zwischen den Trümmern der Waggons oder wurden durch die Explosionen getötet. Die Zahl der Todesopfer wurde damals auf etwa 1000 geschätzt.
Die Folgen der schrecklichen Eisenbahnkatastrophe waren absehbar, die Überlebenden und die Kinder der Opfer forderten Gerechtigkeit, allerdings mit wenig Erfolg, wie der Historiker Dorin Stănescu weiß:
Viele Verletzte oder Kinder der Opfer versuchten, die rumänische Eisenbahn und die rumänische Armee auf Entschädigung zu verklagen. Offensichtlich kam der Prozess nicht voran und man kam zu dem Schluss, dass das Gebiet aus rechtlicher Sicht unter der Gerichtsbarkeit der Armee stand und die Schäden als Kriegsschäden zu betrachten waren. In der menschlichen Gesellschaft sind es oft die Toten, die für schuldig befunden werden. Der Untersuchungsausschuss argumentierte, dass der Zug wegen der Reisenden, die angeblich die Manöver der Bahnmitarbeiter blockierten, nicht angehalten werden konnte. Es gibt eine Ähnlichkeit mit einer anderen Eisenbahnkatastrophe, die sich im gleichen Zusammenhang, aber in Frankreich ereignete. Am 12. Dezember 1917 entgleiste im Departement Savoie (Savoyen) ein Zug mit französischen Soldaten auf Urlaub, die in einer hügeligen Gegend unterwegs waren, und die Schlussfolgerungen der Untersuchung waren fast identisch. Niemand ist für die dortige Katastrophe, bei der 400 Menschen starben, zur Rechenschaft gezogen worden. Auch dieser Zug war überfüllt. Sie wollten keine Sündenböcke mehr suchen, und so wurde der Krieg für das Unglück verantwortlich gemacht.“