„Bildungsstandort Rumänien“: Was bringen die neuen Bildungsgesetze?
Rumänien hat seit 30 Jahren unzählige Reformen des Bildungswesens versucht, doch keine hat die gravierenden Probleme im Schulwesen und Hochschulunterricht wirklich gelöst. Ein neuer Versuch soll Abhilfe schaffen.
Roxana Vasile, 19.04.2023, 19:26
Seit fünf Jahren koordiniert die derzeitige Bildungsministerin Ligia Deca das Projekt Bildungsstandort Rumänien“, das vom Staatspräsidenten Klaus Johannis ins Leben gerufen wurde und während seiner beiden Amtszeiten immer wieder für Schlagzeilen aufgrund der Verzögerung seiner Umsetzung sorgte. Das Projekt, das nun in Form der neuen Bildungsgesetze in die Praxis umgesetzt wird, soll eine Lösung für die schwerwiegenden Probleme im rumänischen Bildungssystem liefern.
Die Missstände im rumänischen Bildungssektor sind gravierend und sie haben sich festgesetzt. Die Gesetze in diesem Bereich sind seit der antikommunistischen Revolution von 1989 unzählige Male abgeändert worden, und die zahlreichen Minister und Ministerinnen unterschiedlicher politischer Couleur, die sich an der Spitze des Bildungswesens die Klinke in Hand gaben, hatten kein klares Konzept, wie die Mängel zu beheben sind, auf die Lehrer, Schüler und Eltern immer wieder hingewiesen haben.
Nach einer ersten Phase von Konsultationen in den Jahren 2016–2017 wurde das Projekt Bildungsstandort Rumänien“ 2018 zur öffentlichen Debatte gestellt. Als Beraterin des Präsidenten für Bildung koordinierte Ligia Deca das Projekt direkt, nahm an den Debatten teil und verantwortete den Abschlussbericht, der im Sommer 2021 veröffentlicht wurde. Mehr als 60 Bildungseinrichtungen und fast 13 Tausend direkt Betroffene und Experten waren an der Ausarbeitung des Abschlussberichts beteiligt.
Im vergangenen Herbst ernannte Präsident Klaus Johannis Ligia Deca schließlich zur Bildungsministerin und übte Druck auf den Politikbetrieb aus, damit das Programm Bildungsstandort Rumänien“ möglichst schnell per Gesetz verwirklicht wird. Genauer gesagt sind nach langem Hickhack zwei Gesetze daraus geworden. Das Gesetz über die voruniversitäre Bildung zielt unter anderem darauf ab, die Zahl der Schulabbrecher zu verringern, und mit dem Gesetz über die Hochschulbildung soll die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten in Rumänien und europäischen Partneruniversitäten gefördert werden. Die Professionalisierung der beruflichen Laufbahn der Lehrkräfte, die Verbesserung des Zugangs zur Früherziehung, die Verringerung des funktionalen Analphabetismus, die Anpassung der Lehrpläne an den Arbeitsmarkt, die Modernisierung der Test- und Bewertungsmethoden und die verstärkte Unterstützung von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen sind weitere, ebenso wichtige Ziele.
Die meisten Eltern und Schüler sind jedoch daran interessiert, was sich kraft der neuen Bildungsgesetze in der sogenannten Nationalen Bewertung (der Aufnahmeprüfung für die Oberschule) und dem Abitur ändern wird. Bekannt ist, dass das Abitur einen zusätzlichen Test beinhalten wird, der die Grundkenntnisse der Schüler abfragt, und dass zusätzlich ein sogenanntes technisches Abitur eingeführt wird. Ministerin Ligia Deca erläuterte kürzlich im rumänischen Rundfunk, wie die Aufnahmeprüfung für die Oberschule künftig gestaltet werden soll:
Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Nationale Bewertung, wie wir sie jetzt kennen, die aus den Prüfungen in Rumänisch und Mathematik besteht sowie — im Falle der anerkannten nationalen Minderheiten — der Prüfung in der jeweiligen Muttersprache. Danach folgt eine potenzielle Prüfung für die Zulassung zum Gymnasium — allerdings nur für die Profile, bei denen es einen Wettbewerb gibt. Hier sprechen wir von 60 % der Ausbildungsplätze, die durch diese Aufnahmeprüfung vergeben werden können; die restlichen 40 % der werden auf der Grundlage einer computergestützten Verteilung der erfolgreichen Kandidaten auf die jeweiligen Gymnasien vergeben und auf der Grundlage der Ergebnisse der Nationalen Prüfung ermittelt. Schüler und Eltern sollten sich darüber im Klaren sein, dass diese Änderungen nicht zeitgleich mit dem Gesetz in Kraft treten werden, also nicht nächstes Jahr oder in zwei Jahren. Wir wollen Vorhersehbarkeit, und deshalb werden erst die Kinder, die im ersten Schuljahr nach der Verabschiedung des Gesetzes in die fünfte Klasse kommen, die Nationale Prüfung ablegen und nach der neuen Formel auf dem Gymnasium aufgenommen. Konkret wird die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium frühestens ab 2027 gelten, und die neue Abiturprüfung entweder 2028 oder 2029 zum Zuge kommen, je nachdem, wie schnell wir die Lehrplanreform abschließen.“
Mit den neuen Bildungsgesetzen sollen die Schüler in den Mittelpunkt gerückt und das Potenzial eines jeden Kindes gefördert werden. Wie soll dies erreicht werden? Ministerin Ligia Deca erläutert weiter:
Wir sprechen hier von einem Paradigmenwechsel. Es geht nicht mehr um Lehrpläne nach Vorstellungen der Schule, sondern um Lehrpläne, die an die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Schüler angepasst sind, d.h., die die Schüler werden aus dem Angebot der Schule wählen dürfen. Wir wollen, dass diese Wahlmöglichkeit verstärkt wird und dem Potenzial der Kinder besser entspricht. Gleichzeitig wird es ein Schülerportfolio geben, in dem im Grunde alle Informationen über den Bildungsweg eines Kindes gesammelt werden, so dass wir bei Problemen viel früher eingreifen können, als dies jetzt möglich ist. Für jeden Bildungszyklus gibt es gesetzliche Bestimmungen, die den Schulberater, den Schulleiter, die Familie und die anderen Lehrer besser miteinander vernetzen, so dass für jeden Schüler ein individueller Plan erstellt werden kann. Außerdem werden wir durch das nationale Programm zur Verringerung des funktionalen Analphabetismus über standardisierte, jährliche Tests verfügen, die es uns ermöglichen, festzustellen, wo Nachholbedarf besteht und wo wir ein höheres Maß an Komplexität anbieten können, damit Kinder, die zu hohen Leistungen fähig sind, entsprechend gefördert werden. Wir sprechen also über Gesetze, die viel stärker auf die Bedürfnisse der Schüler ausgerichtet sind.“
Wie ist es jedoch um die Lehrkräfte bestellt? Ändert sich etwas in der Entlohnung und der Bewertung ihrer Aktivität? Bildungsministerin Ligia Deca kommt erneut zu Wort:
Das Bildungsministerium hat in den letzten Monaten gemeinsam mit den wichtigsten Gewerkschaftsverbänden an den Gehaltstabellen im Rahmen des neuen Entlohnungsgesetzes gearbeitet. Seit Februar haben wir unsere Vorschläge an das Arbeitsministerium gesandt, um zum Entwurf für das neue Besoldungsgesetz beizutragen. Es gab auch direkte Gespräche mit den Gewerkschaften, aber auch zwischen den Gewerkschaften und Vertretern der Parteien der Regierungskoalition. Was die Bewertung der Arbeit der Lehrkräfte betrifft, so haben wir vereinbart, gemeinsam zu prüfen, wie wir die bereits vorhandenen Instrumente wie die Leistungsvergütung anpassen können, aber auch, wie wir neue Anreize einführen können, z.B. die Regelung, dass 2 % des Gehaltsfonds dem Schulleiter zur Verfügung gestellt werden, um Lehrkräfte zu motivieren, die sich stärker in Schulprojekte einbringen.“
Die bisherigen Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Der Schulabbruch ist immer noch eines der größten Probleme an rumänischen Schulen, wobei Rumänien laut Eurostat den höchsten Prozentsatz an Schulabbrechern in Europa aufweist. Die Schulabbrecherquote ist in den ländlichen Gebieten am stärksten ausgeprägt. Hinzu kommt der funktionale Analphabetismus, der in den PISA-Tests unter 15-jährigen rumänischen Schülern gemessen wird. Auch hier liegt Rumänien weit über dem europäischen Durchschnitt. Mit anderen Worten: Eine beträchtliche Anzahl rumänischer 15-Jähriger versteht die Inhalte gelesener Texte nicht. Der Mangel an Lehrern und qualifiziertem Schulpersonal ist ein weiteres Problem, das seit Jahren ungelöst ist. Die niedrigen Erfolgsquoten bei den Lehramtsprüfungen der letzten Jahre sind besorgniserregend. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Gewalt an den Schulen und der Drogenkonsum unter Schülern, Phänomene, in in letzter Zeit dramatisch zugenommen haben.
Kritiker des Projekts Bildungsstandort Rumänien“ bemängeln, dass die Initiative des Präsidenten nicht von den bestehenden konkreten Problemen ausginge, sondern nur eine Sammlung von Allgemeinplätzen sei. Daher werden die neuen Bildungsgesetze — trotz der Änderungen, die sie mit sich bringen — die derzeitigen Probleme nicht lösen können, sondern eher mehr Verwirrung mit sich bringen, so die Kritik.
Für die Umsetzung der in den neuen Gesetzen vorgesehenen Reformen werden mehr als 3 Milliarden Euro aus dem in Brüssel genehmigten Nationalen Aufbau- und Resilienzplan (PNRR) bereitgestellt.